Das Dorf in dem Kathi lebte, war abseits der großen Städte und die
Bewohner pflegten eine eigene Denkweise, die von vielen nicht
nachvollzogen werden konnte. Alle im Dorf waren glücklich und die besten
Handwerker und die tüchtigsten Frauen stammten aus gerade diesem Dorf.
Kathi turnte auf den Stämmen am Wiesenhang, dabei musste sich eine
Sperre gelockert haben und nach und nach fingen alle Stämme an zu
rollen. Im letzten Augenblick konnte sie noch zur Seite springen und
stand nun da, musste zuschauen, wie der ganze Holzvorrat für den Winter
den Hang hinunterpolterte und unten in den reißenden Strom fiel. Ein
Stamm nach dem anderen. Es wurde ihr sofort klar, dass die kurze Zeit
bis zum Winter nie reichen würde, um wieder ausreichend Holz für alle zu
schlagen. Diesen Winter müssten sie alle frieren, vielleicht sogar
erfrieren.
Kathi lief weg und versteckte sich. Sie wollte nie
mehr nach Hause gehen. Ständig machte sie sich die größten Vorwürfe,
dass sie trotz des Verbotes dort gespielt hatte. Selbst hätte sie auch
schon so gescheit sein müssen.
Es war schon dunkel, als sie sich dann doch noch entschloss, heimzugehen und alles zu beichten.
Als sie sich dem Dorf näherte, sah sie schon von weitem, dass eine
große Runde um ein Feuer saß und schweigend wartete. Ihr fiel das Herz
in die Hosentasche. Zögernd ging sie weiter. Als man sie wahrnahm, erhob
sich der Älteste der Runde und ging auf sie zu, umarmte sie und hielt
sie eine Zeit schweigend fest in seinen Armen, dann sprach er:
Ich liebe dich und ich bitte dich, liebe auch du dich selbst!
Ich verzeihe dir und ich bitte dich, verzeihe auch du dir selbst!
Ich segne dich und ich bitte dich, segne auch du dich selbst!
Während er diese drei Sätze sagte, schaute er ihr fest in die Augen. Dann ließ er sie los und ging zurück in die Runde.
Von da kam nun schon der Zweitälteste auf sie zu, umarmte sie ebenfalls und sage zu ihr:
Ich liebe dich und ich bitte dich, liebe auch du dich selbst!
Ich verzeihe dir und ich bitte dich, verzeihe auch du dir selbst!
Ich segne dich und ich bitte dich, segne auch du dich selbst!
So ging es weiter, bis alle vierunddreißig Erwachsenen bei ihr waren.
Dann wurde sie in die Runde der Erwachsenen gebeten. Es war das erste
Mal, dass sie in dieser Runde sein durfte. Sie musste ganz genau
erzählen, wie es sich zugetragen hatte. Dann wurde beraten.
Es
wurde darüber gesprochen, dass es ein Fehler war, das Holz so dicht am
Hang zu lagern, dass die Zeit bis zum Wintereinbruch viel zu kurz sei um
neues Holz zu machen. Dann wurde beschlossen, dass sich dieses Jahr
alle auf das Gemeinschaftshaus im Dorfzentrum beschränken müssten. Dort
sollten dann bei Kälte auch alle schlafen.
Die Absicht, für die sieben Häuser der sieben im Dorf lebenden Familien je eigenes Holz zu machen, wurde vollkommen aufgegeben.
Auch wurde immer wieder nach dem Geschenk gefragt, das wohl in diesem
Vorfall versteckt sei. Andere fragten, was wohl die gute Seite an diesem
Unglück sein möge.
Kathi hörte das wohl, konnte damit aber nichts anfangen. Sie war fürs erste froh, dass sie nicht geschimpft worden war.
Sie konnte sogar das Verzeihen der anderen annehmen und glauben, hatte
es doch jeder einzelne mit aufrichtigem Herzen zu ihr gesagt: "Ich
verzeihe dir …"
Aber der zweite Teil "... ich bitte dich, verzeihe
auch du dir selbst!", das fiel ihr so schwer, sie konnte es nicht; immer
wieder machte sie sich selbst Vorwürfe.
Es war einige Zeit
seit dem Vorfall vergangen, der Winter kam früher als erwartet und die
großen Schneemassen hatten alles unter sich begraben. Der Holzvorrat war
so knapp, dass er nur reichen konnte, wenn ganz sparsam damit
umgegangen wurde. - Aber dieser Mangel war nirgends zu spüren.
Alle lebten nun im Gemeinschaftshaus und die Körper der Leute heizten
mit, so dass auch bei kleinem Feuer eine angenehme Temperatur herrschte.
So einen schönen und lustigen Winter hatte es noch nie gegeben. Es
wurde viel miteinander gesungen, gespielt, Geschichten erzählt und
gelacht. Alle waren glücklich und immer wieder konnte man hören: "Gut,
dass Kathi das Holz ins Wasser rollen ließ!"
Immer und immer
wieder wurde dieser Umstand ganz besonders erwähnt und das gab Kathi die
Kraft, ihre Selbstvorwürfe nach und nach aufzugeben. Sie sah und
erlebte es, es war der schönste Winter ihres Lebens. Wäre das Holz nicht
vernichtet worden, so hätten sie, wie all die Jahre vorher, getrennt,
jede Familie in ihrem eigenen Häuschen, eingeschneit diese lange Zeit
mit Handarbeiten und vor allem nur beschränkt auf die Familie verbringen
müssen.
Wie herrlich ist doch eine so große Gemeinschaft.
Als sie die Selbstvorwürfe aufgeben konnte, fing sie auch an zu
begreifen, was mit dem Geschenk in dem Unglücksfall gemeint war. Es war
wirklich ein Geschenk, denn die Gemeinschaft hatte beschlossen, dass
auch im nächsten Winter wieder alle im Gemeinschaftshaus leben sollten.
Dadurch würden nicht nur die Winter schöner und kurzweiliger, sonder die
Zeit konnte auch gut genutzt werden, um die Kleinen in die
verschiedensten Handwerkstechniken einzuführen. Von den Männern wurde
besonders freudig herausgestellt, dass sich nun die Zeit für das
Schlagen des Winterholzes stark verkürzte. Statt vier Monate sind es nun
nur noch drei Wochen. Sie sparen sich neun Wochen schwerste Waldarbeit -
dank Kathi.
Seit dem Unglückstag durfte Kathi bei den
Beratungen der Erwachsenen teilnehmen. Es gab immer wieder Situationen
in denen in der Gemeinschaft etwas geschah, was auf den ersten Blick
furchtbar war. Die Erfahrung und Denkweise der Gemeinschaft war es
jedoch, dass überall ein Geschenk enthalten ist. Davon ist nun auch
Kathi überzeugt. Es ist ihr zur Gewissheit geworden.
Meistens
waren es junge Mitglieder der Gemeinschaft, denen ein Missgeschick
widerfuhr. Wenn Kathi dann an der Reihe war, den Betroffenen zu umarmen,
dann konnte sie mit ihrem Herzen, aus tiefster Überzeugung und mit
ruhiger und fester Stimme ihre ermutigenden und liebevollen Worte sagen.
Dieser Brauch (diese Ritual), den Verursacher vollkommen zu entlasten,
wurde auch weiterhin gepflegt. Wenn es wieder so weit ist, geht auch
heute noch jeder einzelne Dorfbewohner hin, drückt den anderen und sagt
ihm diese drei Sätze.
Ich liebe dich und ich bitte dich, liebe auch du dich selbst!
Ich verzeihe dir und ich bitte dich, verzeihe auch du dir selbst!
Ich segne dich und ich bitte dich, segne auch du dich selbst!
nach Lena Lieblich
Sieht so aus, als hättest du noch keine Wahl getroffen.